Zittauer Reden 2014

25 Jahre Friedliche Revolution Oberlausitz



WERNER SCHULZ
Rede Festveranstaltung Zittau „25 Jahre 19. Oktober 1989“
Zittau 19.10.2014

Landauf, landab wird dieser Tage vielerorts und in den Medien an die Ereignisse vor 25 Jahren erinnert. Die Zeit als Politbüros und Zentralkomitees kommunistischer Parteien wie Kartenhäuser zusammenbrachen, Regierungen gestürzt wurden, politische Systeme und letztlich ganze Staaten verschwanden. „Ein Jahrhundert wird abgewählt“ überschrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash damals seinen Bericht aus den Zentren Mitteleuropas. Ein Jahrhundert der Extreme. Es war das Annus mirabilis – das Wunderjahr, als vielen der Mund offen blieb, man das Wort Waaaaahnsinn freudetrunken mit fünf a schrieb. Nicht wie heute, wo uns der normale Wahnsinn in seiner schrecklichsten Form erreicht, wenn wir die schlimmen Bilder aus der Ostukraine, Syrien und Kobane sehen. 1989 war das Jahr in dem sich die Ereignisse überstürzten, die Realität die Phantasie überholte. Jeder, der heute behauptet er hätte kommen sehen, was geschah lügt oder biegt sich die Geschichte zu recht. Auch die Unterzeichner des Aufrufes „Aufbruch 89 – Neues Forum“ der sich wie ein Lauffeuer im Land verbreitete, hatten nicht damit gerechnet und sich Anfang September zum nächsten Treffen im Dezember verabredet, um weitere Schritte im Vorfeld des geplanten SED-Parteitages zu beraten. Helmut Kohl hat uns gerade und offenbar nicht ganz freiwillig wissen lassen: er hätte das geahnt, denn die DDR sei Pleite gewesen. Es sei falsch so zu tun, als wäre da plötzlich der heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und habe die Welt verändert. Die Vorstellung, die Revolutionäre im Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regimes erkämpft, sei einem Volkshochschulhirn entsprungen. Bedauerlicherweise spricht da die Bitterkeit eines Mannes, der plötzlich vom Sockel des Kanzlers der Einheit gerissen wurde und uneinsichtig im Schatten des Denkmals vom Unbekannten Spender steht. Das der demokratische Aufbruch als Systemzusammenbruch verkannt wurde, erklärt allerdings warum so viele Gestaltungschancen im Zuge der Einheit verpasst und verpatzt wurden. Im Bonner Kanzleramt hatte man nicht die Wiedervereinigung auf dem Schirm, sondern plante den Gegenbesuch zum BRD-Staatsbesuch von Erich Honecker von 1987 und damit die faktische Anerkennung der DDR. Niemand war auf die revolutionäre Situation und ihre Folgen vorbereitet. Die Bundesrepublik hatte zwar ein Ministerium für innerdeutsche Fragen, aber keines für gesamtdeutsche Antworten. Und in der DDR existierten ganze Bibliotheken pseudowissenschaftlicher Literatur, die den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus beschrieben, aber nicht wie man von dort zurück findet. Doch der epochale Umbruch 1989 war kein spontanes Ereignis, kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern hatte eine lange Vorgeschichte. Kurz gefasst könnte man sagen: Was lange gärt wird Mut. Denn Bürgermut gehörte schon dazu im Herbst 89 auf die Straße zu gehen, um gegen Unfreiheit, Bevormundung, Willkür und Lüge und gegen ein bis an die Zähne bewaffnetes Regime zu demonstrieren. Trotzdem ist unter den Festrednern dieser Tage das Bild verbreitet die DDR sei aus ökonomischen Gründen zusammengebrochen. Gleichsam von selbst, praktisch implodiert. Tausende seien diesem „Break down“ durch das Überklettern von Botschaftszäunen und von Hans-Dietrich Genscher organisierten Zügen entkommen. Das Volk habe seinem Unmut durch Straßenproteste Luft gemacht, erst „Gorbi“ dann „Helmut“ zu Hilfe gerufen, ein schussliger Funktionär habe aus Versehen die Mauer geöffnet. Die großen Staatsmänner Kohl, Genscher, Bush sen. erkannten was notwendig war und rissen in diesem Schlamassel entschlossen das Heft des Handelns an sich und handelten Gorbatschow die Zustimmung zur deutschen Einheit ab. Den formalen Teil des Ablaufs leisteten dann Schäuble und Krause mit dem Einigungsvertrag und das deutsche Volk nahm am 3. Oktober jubelnd und in Dankbarkeit das Geschenk der Einheit entgegen. Doch die kommunistischen Staaten Osteuropas sind nicht zusammengebrochen oder implodiert. Ohne den Bürgeraufstand in den Ländern des Ostblocks, ohne das mutige Aufbegehren hätte es das Ende dieser Diktaturen niemals gegeben. Gesellschaften brechen nicht einfach zusammen. Das zeigen China, Nordkorea oder Kuba. Revolutionen vollziehen sich nicht im Selbstlauf. Sie ereignen sich, wie Lenin bei Marx abgeschrieben hat, immer dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Wenn Menschen den Mut fassen etwas zu tun und zu wagen, wozu sie lange nicht bereit waren. Dabei warnten die Jahreszahlen 1953, der Volksaufstand in der DDR, 56 die Aufstände in Polen und Ungarn, 68 der Prager Frühling – als die Versuche das System zu überwinden oder umzukrempeln brutal niedergeschlagen wurden. Und wem das nicht bewusst war, der bekam Anfang Juni 89 in Peking vor Augen geführt, wie kommunistische Machthaber auf Demokratiebegehren reagieren. Die SED-Führung hat das Massaker auf dem Tien-An-Men als Niederschlagung der Konterrevolution gebilligt und als Drohung benutzt. Noch immer heißt dieser Platz, makabererweise Platz des himmlischen Friedens. Erfüllt uns die Hoffnung, dass er nicht erneut in Hongkong vollstreckt wird. In der DDR wechselte vor 25 Jahren die Angst die Seite. Bekamen es plötzlich die mit der Angst zu tun, die jahrelang Angst verbreitet hatten. Es war der späte und entscheidende Moment einer fortwährenden Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System und seiner inneren Zerrüttung. Den unter Stalin gegründeten Ostblockstaaten hat es von Anbeginn an demokratischer Legitimation gefehlt. Deswegen standen die Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung im Mittelpunkt der Ereignisse. Hofften viele darauf, 1989 auch in Mittel- und Osteuropa die Verwirklichung der Ideale von 1789 zu erleben: einen dauerhaft stabilen Rechtsstaat mit der Garantie von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit bzw. den ökumenischen Dreiklang von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Nicht der Wunsch nach Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse, sondern vor allem die Überwindung unfreier politischer Verhältnisse waren Kern und Ziel der Proteste. Insofern fand die wahre und folgenreiche Gedenkfeier des 200. Jahrestages der französischen Revolution nicht in Paris, sondern 1989 im Osten Europas statt. Die Ursachen, auslösenden Faktoren, der Werdegang, das Warum und Wie wurden mittlerweile zwischen etlichen Buchdeckeln beschrieben und analysiert. Um es auf wenige Worte zu bringen: die Gläubigen nennen es ein Geschenk des Himmels, ein Wunder. Andere sprechen von extremem Glück. Sicher – die KSZE, die Entspannungspolitik, die russischen Dissidenten, KOR, die Charta 77, Solidarnosc, der konziliare Prozess, der polnische Papst, Gorbatschow, die Bürgerrechtler, das NEUE FORUM, die Grenzöffnung in Ungarn, die Ausreisewilligen – das alles hat eine Rolle gespielt. Doch der gewaltlose Ablauf war nicht vorgesehen. Im Gegenteil, mit Internierungslagern für 83 Tausend Menschen war alles auf den Ausnahmezustand vorbereitet, um eine Wiederholung des 17. Juni im Keim zu ersticken. Und selbst als alles gelaufen war, die Grenze schon offen, gab es den erneuten Versuch die in der DDR stationierte Rote Armee zur Niederschlagung der Friedlichen Revolution zu provozieren. Plötzlich tauchten am 28. Dezember nationalistische und antisowjetische Schmierereien am Treptower Ehrenmal für die gefallen sowjetischen Soldaten auf. Die Täter blieben im Dunklen. Etliche Indizien deuteten darauf hin, dass es die Stasi selbst war. Eine Spur führte nach Dresden, woher der neue Ministerpräsident kam, der die Stasi als Amt für Nationale Sicherheit erhalten wollte. Der Dresdener KGB-Chef Putin ließ alle Akten verbrennen und der Dresdner Stasi-Chef Böhm nahm sich im Februar 1990 das Leben, so dass wir die Wahrheit wohl nie erfahren werden. Die SED/PDS trommelt jedenfalls am 3. Januar 1990 eine große Demonstration zusammen, um die angebliche faschistische Gefahr zu bannen. Im Fackelschein malte der neue Vorsitzende Gysi das Gespenst des wiederkehrenden Faschismus an die Wand, durch die einströmenden Neonazis aus dem Westen und dem dort ewig fruchtbaren Schoß. Es war und ist dieser verlogene Antifaschismus, der uns den 17. Juni als faschistischen Putsch einredete, die Mauer zum Antifaschistischen Schutzwall verklärte und heute den demokratischen Aufbruch in der Ukraine als faschistische Revolte diffamiert. Dabei hatten die Vielen auf dem Kiewer Maidan wochenlang in klirrender Kälte friedlich ausgeharrt, um die Rückkehr nach Europa und ein Ende der Korruption zu fordern. Leider mussten wir sehen, dass es auch anders kommen kann, als wir es erlebt haben. Das Hände die Kerzen gehalten und die Europafahne geschwenkt haben zur Selbstverteidigung auch Steine und Molotowcocktails werfen können. Die frühen Warnungen und Analysen des unlängst verstorbenen Publizisten und Philosophen Wolfgang Leonhard belegen, dass die DDR von Anfang an eine Lüge mit drei Buchstaben war. Keine Deutsche Demokratische Republik, denn dafür fehlte sowohl die demokratische als auch die nationale Legitimation, sondern genau betrachtet standen die drei Buchstaben für ein Demagogisches Diktatur Regime. Bereits die erste Wahl zur Volkskammer 1950 war eine Farce und dreiste Fälschung. Die Leipziger Studenten Herbert Belter, Gerhard Ryschka und Axel Schröder, die dagegen mit Flugblättern protestierten wurden zum Tode verurteilt und 1951 in Moskau hingerichtet. Ihr mutiger Widerstand gegen die zweite totalitäre Diktatur auf deutschen Boden ist vergleichbar mit dem was Hans und Sophie Scholl taten. Nur das wir diesen antikommunistischen Widerstand kaum kennen und er längst nicht den Stellenwert in unserem Geschichtsbewusstsein gefunden hat. So richtig es ist, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, so wahr ist aber auch, dass die Vergangenheit oft zum Prüfstein der Gegenwart wird. Ich sage das, weil 1989 die routinemäßig gefälschte Kommunalwahl, dieses unglaublich lächerliche Zettelfalten, der Ausgangspunkt anschwellender Proteste war. Und Couragierte um Lothar Alisch und Alfred Hempel dazu beigetragen haben, dass die Dimension der Fälschung auch in der Oberlausitz sichtbar wurde. Dabei lagen die traumatischen Erlebnisse der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 der unter anderem Freie Wahlen forderte noch lähmend und schwer im kollektiven Gedächtnis. Gerade in dieser Region, wo er aufgrund der Flüchtlingssituation schärfer und dramatischer als in anderen Gebieten der DDR verlief. Erst seit einigen Jahren, seit der Öffnung der SED- und Stasi-Archive und dem Erinnerungsboom zum 50. Jahrestag kennen wir in etwa das Ausmaß der gescheiterten Erhebung. Es gehört zu den Kennzeichen einer unfreien und überwachten Gesellschaft, dass zwischen den Akteuren von 53 und 89 kein Kontakt bestand. Wir wussten wenig darüber was unsere Eltern erlebt hatten. So wie unsere Mütter und Väter wenig über die NS-Zeit redeten, so gab es auch zum 17. Juni nur Gespräche hinter vorgehaltener Hand. Viele sind gleich oder nach ihren Zuchthausstrafen in den Westen gegangen. Wir lernten uns erst in den turbulenten Herbsttagen und nach 1990 in der offenen Gesellschaft kennen. Erst da gelang es eine Verbindung zu den oft durch Verfolgung zum Schweigen gezwungenen Oppositionellen der ersten Stunde aufzunehmen. Doch die friedliche Revolution und die seitdem verstärkte Geschichtsaufarbeitung hat auch die Erinnerung an den gescheiterten Aufstand vom 17. Juni aktiviert. Dabei haben wir die Wirkungsgeschichte des Stalinismus und seiner Übertragung auf die DDR noch längst nicht erfasst: Die sozialistische Umgestaltung auf dem Land, die so viele Opfer gekostet hat und zur dauerhaften Zerstörung von Familienbetrieben und traditioneller Strukturen geführt hat. Oder die systematische Gehirnwäsche, die Aufschluss darüber gibt, warum heute noch so viele der Kreml Propaganda Glauben schenken, dass die Annexion der Krim und die Invasion in der Ostukraine eine Art Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges sei. Und nicht die panische Furcht Putins vor einem Euromaidan auf dem Roten Platz. Ohne den Mut der Ostdeutschen hätte es weder den 17. Juni 53 noch den 9. November 89 gegeben. Der kleinere, bedrängte Teil unseres Volkes hat für das Ganze Geschichte geschrieben. Darauf können die Ostdeutschen stolz sein. So wird das heute gesagt und ist es zu hören. Doch dem ist nicht so. Und das mag auch daran liegen, dass längst nicht alle an diesen Freiheitsprozess beteiligt waren. Etliche sich dagegen stellten, es als Konterrevolution betrachteten, argwöhnisch verfolgten und noch heute die Faust in der Tasche haben. Doch letztlich war der lange Atem der Opposition stärker als der lange Arm der SED und Stasi. Leider sind die Gedenkveranstaltungen stark auf Leipzig und Berlin focusiert. Doch wir dürfen in unserem Geschichtsbild und in unserer Erinnerungskultur keine weißen Flecken entstehen lassen. Denn was für Plauen der 7. Oktober, für Leipzig der 9. Oktober und für Berlin der 4. November war – dieses Durchbrechen der Angst- und Schweigemauer und aufrechte Gang auf die Straße – war für die Oberlausitz der 19. Oktober in Zittau, wo Tausende in der Johanniskirche, der Kloster- und Marienkirche einer öffentlichen Veranstaltung des NEUEN FORUM folgten. In einer Region in der es kein Westfernsehen gab und die als Aufbruchsfanal wirkenden Bilder aus Leipzig erst später zu sehen waren. In einer Region, die im festen Griff dreier Offiziersschulen war. Doch der enorme Druck und Freiheitswille im gesamten Land hat zum Durchbruch der Angst- und Schweigemauer und letztlich Berliner Mauer geführt. Es war nicht mehr die eigenständige Entscheidung der SEDFührung, sondern eine erzwungene. Nicht das Versehen ihres Politbüromitgliedes für Agitation und Propaganda. Ohne den 7., den 9. und 19. Oktober hätte es den 9. November in Berlin nicht gegeben. Und nicht den 3. Oktober 1990. Ohne die gesteigerte Bereitschaft auf die Straße zu gehen hätte es den Andrang an der Bornholmer Brücke nicht gegeben. Wäre die frisch errungene Freiheit nicht sofort getestet und die Selbstbefreiung vollendet worden. In der Terminologie Lenins, dem Altmeister der organisierten Revolution, war das eine Revolution Neuen Typus. Eine Revolution ohne Gewalt, theoretisches Konzept und Avantgarde. Ohne Drahtzieher und Rädelsführer. Eine Revolution, bei der Kerzenwachs und kein Blut floss. Demonstranten Transparente statt Waffen in den Händen hielten. Kein Sturm auf die Bastille erfolgte, sondern die gewaltfreie Besetzung der Stasizentralen. Die Akteure nicht auf die Barrikaden gingen, sondern an die Runden Tische. Dem Sturz der Nomenklatura folgte kein Wohlfahrtsausschuss und „Thermidor“, sondern frei gewählte demokratische Parlamente. Der friedliche Ablauf entfaltete eine enorme zivilisatorische Kraft, die im Dominoeffekt ein totalitäres System mit seiner verquasten Ideologie zum Einsturz brachte. Vom Runden Tisch in Polen, der friedlichen Revolution in der DDR, der samtenen in der CSSR bis zur singenden im Baltikum, war dies ein eindrucksvoller Beitrag zur Bürgergesellschaft. Das Erringen von Freiheit und Bürgerrechten, ohne das dafür andere Menschen geschlachtet wurden. Das haben die Völker Osteuropas selbst bewerkstelligt. Nicht die Großpolitiker dieser Welt. Die friedliche Revolution war zugleich eine humane Revolution. Die alte Machtelite kam weitgehend ungeschoren davon. Die SED verlor ihre führende Rolle ohne dass dafür Köpfe rollten. Stasi in den Tagebau, nicht in den Bau hieß die Devise. Die SED rettete sich und ihr Vermögen. Heute fordert die Linke zu Recht Schadenersatz von Bankern und Spekulanten ohne der Logik zu folgen, dass Gleiches auch für die Verantwortlichen eines Staatsbankrottes zutrifft. Die derzeitigen Koalitionsverhandlungen in Thüringen haben erneut eine abstruse Diskussion ausgelöst, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Manche meinen damit würde dieser Staat dämonisiert und man würde dem wirklichen Leben nicht gerecht. Doch schon die Ablehnung des Begriffes reiht sich ein in die 3 V-Betrachtung der Vergangenheit: der Verdrängung, Verklärung und Verharmlosung. Heute erleben wir eine DDR, die es so schön nie gegeben hat. Natürlich gab es auch anständiges Leben im falschen System. Doch das sollten wir gut auseinander halten. Denn dort wo die DDR vornehmlich als Erinnern ihrer privaten Alltagsseiten fortlebt, verblasst häufig die Unrechtsnatur des Systems. Immer Recht hatte, wie schon im Lied besungen, allein die Partei. Den Bürgern blieb nur die Möglichkeit von Eingaben, um wie im Feudalismus die Herrschenden darum zu bitten das Mängel und Missstände beseitigt werden. Ich finde den Begriff Unrechtsstaat treffend und eher mild für einen Staat, der kollektive Freiheitsberaubung betrieb, um einen fragwürdigen Gesellschaftsentwurf an unterdrückten und festgehaltenen Menschen zu realisieren. Wo auf Republikflucht ohne Haftbefehl und Gerichtsurteil die Todesstrafe stand, die an der Grenze sofort vollstreckt wurde, wenn der Aufforderung stehen zu bleiben nicht Folge geleistet wurde. Unsere Zukunft entscheidet sich auch in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Denn wohl gemerkt, der Ruf war: Stasi in die Produktion – nicht in die Koalition. Bei einer Stimme Mehrheit für Rot-Rot-Grün in Thüringen und zwei vom Landesverfassungsgericht als parlamentsunwürdig eingestuften Abgeordneten bahnt sich da mehr als ein Skandal an. Was hier in der Oberlausitz passierte, zeigt dass die Friedliche Revolution im Kern eine protestantische Revolution war. Denn vorwiegend waren evangelische Kirchen das Basislager der Revolution. Nie Gewerkschaftsgebäude, Rat- oder Kulturhäuser gar Fach- und Hochschulen oder Universitäten. Von den Friedensgebeten und Fürbittandachten, die sich oft zu Bürgerforen ausweiteten, ging es direkt auf die Straße. Mit einer Mischung aus entschlossenem Ernst, protestantischem Gestus und geradezu entwaffnender Vernunft und Disziplin, welche die Aggressionsgefahr gebannt hat. Doch machen wir uns nichts vor, liebe Schwestern und Brüder, es waren nur wenig Unentwegte, eine Minderheit in der Kirche, die sich der braven Anpassung einer „Kirche im Sozialismus“ widersetzt haben und den Versuch wagten in der Wahrheit zu leben. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Kirche, die längst keine „Volkskirche“ mehr war, für kurze Zeit zu einer Kirche des Volkes und Ausgangspunkt der Revolution wurde. Es waren die Friedenskreise und Umweltgruppen der Oberlausitz, die Umweltbibliothek Großhennersdorf die den Glauben an Veränderungen hochhielten. Aus dieser schwachen Opposition erwuchs in Verbindung mit den Ausreisewilligen eine starke Kraft. Nahm die Zahl der Bürger in einem Land ohne Bürgerrechte unaufhörlich zu. Wurde aus den Rinnsalen von Bürgerrechtsgruppen der breite Strom einer Bürgerbewegung. Der bahnbrechende Ruf: „Keine Gewalt“ war die prägnante Zusammenfassung der Bergpredigt, der revolutionärsten Stelle im Evangelium. Ausgerechnet im Müntzerjahr, dass Erich Honecker Anfang 89 anlässlich des 500. Geburtstag des Reformators mit der Verkündung einleitete, dass die Mauer noch in 50 oder 100 Jahren stehen werde, sollte das Monstrum fallen. Allerdings nicht durch das Gewaltrecht des Guten, das Müntzer predigte, sondern eher durch zivilen Widerstand im Sinne Bonnhöfers und dem Gründungsmotiv der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Ein weltweit bekannt gewordenes Symbol, das in der Oberlausitz auf Anregung des sächsischen Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider entstand und die Alternative zur Militarisierung der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Eine auf Textilvlies gedruckte Abbildung einer überlebensgroßen Plastik, welche die Sowjetunion der Uno geschenkt hatte, wo sie noch heute steht. Darunter stand das entsprechende Bibelzitat und die Textstellen in Jesaja 2 und Micha 4. Dabei nutzte die Kirche eine Überwachungslücke. Das Bedrucken von Papier unterlag der Zensur. Das Bedrucken von Textilien galt als Oberflächenveredlung. Als Erkennungszeichen der Opposition wurde es zur Jagdtrophäe der staatlichen Organe. Heute stehen wir vor der Gefahr einer großen Rückholaktion von Schwertern, denn wir sind nicht nur von Freunden umzingelt, sondern auch von gar nicht so weit entfernten Kriegen und brutalem Terror. Sicher, es gibt keine Gebrauchsanweisungen für die Konfliktlösungen von heute. Das in der Welt Unheil existiert, ist keine neue Erkenntnis. Man wird es nicht durch Eiswasser, das man sich über den Kopf gießt vertreiben. Schon der naive Satz: „Stellt euch vor es ist Krieg und keiner geht hin“ – hat auf dem Balkan zu einer dramatischen Verlängerung des Blutvergießens geführt. Die Abwägungen und Entscheidung im Einzelfall sind gewiss sehr schwierig. Doch die Lehre aus unserer Geschichte erlaubt uns kein Heraushalten, sondern verlangt Verantwortung im Rahmen eines multilateralen Handelns. Aus unserer Vergangenheit lässt sich kein kategorischer Pazifismus ableiten. Angesichts der Naziverbrechen zog Bonhoeffer den Schluss, dass es Situationen gibt, in denen es nicht reicht, Unter-die-Räder-Gekommene zu verbinden, sondern dem Rad müsse man und sei es mit Gewalt in die Speichen greifen. Offenbar haben wir es verlernt für unsere Werte zu kämpfen, die wir so wie die unangreifbare Würde des Menschen tapfer auf dem Papier verteidigen. Lange haben wir die Friedensbeteuerung für einen alten Hut gehalten, als gäbe es dafür eine Dauergarantie und keinen Grund zur Sorge in Europa. Doch auch in der unendlich freien digitalen Welt lassen sich unsere moralischen Grundwerte nicht einfach down loaden oder up daten. Sie müssen vorgelebt und vermittelt werden. Wichtig bleibt, dass wir Friedfertigen uns nicht an militärische Lösungen im Konfliktfall gewöhnen. Dass wir die Kriegsflüchtlinge mit offenen Armen empfangen, weil wir das Elend aus Flucht und Vertreibung schmerzhaft kennen. Und weil wir Schleußer und Schlepper vor 25 Jahren noch Fluchthelfer nannten. Der Soziologe Ralf Dahrendorf bezeichnete 1945 und 1989 als die beiden Befreiungsdaten des sonst so mörderischen 20. Jahrhunderts. Er hält die Revolution von 1989 für die erfolgreichste Revolution der Moderne, weil sie die politische Stagnation überwunden und das heutige Europa ermöglicht hat. Eine Europäische Union, die nicht nur auf Versöhnung und der Friedensidee der großen alten Männer beruht, sondern auch auf dem Freiheitswillen der vielen Frauen und Männer, die gewaltlos eine Diktatur gestürzt und aus eigener Kraft die Demokratie, als das politische Regelwerk der Freiheit errungen haben. Das Jahr„1989“ war mehr als nur ein Epocheumbruch, eine Wende oder Zeitenwende im Kalender der europäischen Geschichte. Es war das Schlusssymbol eines brutalen Jahrhunderts, einer skrupellosen Ideologie und ihrer totalitären Ausführung. Das Ende des Kommunismus, seiner Fortschrittsutopie und seines falschen Menschenbildes. Das Ende zynischer Machtsysteme und ihrer diktatorischen Herrschaft. Das Ende einer erzwungenen Stabilität um den Preis der Freiheit und einer Gesellschaftsplanung mit der fatalen Nebenwirkung einer allgemeinen Lähmung sämtlicher Lebensbereiche. All das geschah und verdichtet sich in den Ereignissen des Jahres „1989“. Dennoch wird mir heute oft die Frage gestellt: Was haben wir eigentlich erreicht, was ist vom 89 er Revolutionsgeist übrig geblieben angesichts sinkender Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit? Abgesehen davon, dass der Erregungszustand einer Revolution keine Dauererscheinung ist und viele Teilnehmer einen selbst bestimmten Platz im Leben fanden, haben wir Vieles erreicht, was heute normal und selbstverständlich empfunden wird: Freie Wahlen, Meinungs- und Informationsfreiheit, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und Freizügigkeit im eigenen Land, freie Wohnungswahl, Gewerbefreiheit, die Freiheit der Berufswahl, die Abschaffung des Machtmonopols einer Partei und ihrer Privilegien, die Schließung der Stasi und die Offenlegung ihrer Akten, die Beendigung des Menschenhandels und Ausverkaufs durch die Staatsmafia, die Abschaffung der Kommandowirtschaft, das Ende einer militarisierten Gesellschaft, die Auflösung der Bezirke, welche die historischen Länder zerschnitt, die Beseitigung schlimmster Umweltschäden und die Verhinderung einer desaströsen Energiepolitik, welche noch etliche Naturschutzgebiete und Kulturlandschaften dem Braunkohleabbau geopfert hätte. Ganze Dörfer und Stadtteile sind im letzten Moment dem Tod von der Schippe gesprungen. Viele Bürgerhäuser stehen wieder in alter Pracht. Gerade in Zittau und Görlitz kann man das bewundern. Doch der Bürgergeist hat erst zaghaft wieder Einzug gefunden. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft ist kein revolutionärer Akt, sondern langwierig und mühsam. Auch keine Frage des Geldes. In der Dienstleistungsgesellschaft wird Politik oft als Dienstleistung, als Service betrachtet. Man spricht nicht umsonst vom politischen Betrieb, als sei es Siemens, VW oder E.on. Doch die Bürgergesellschaft ist keine Outsourcing GmbH. Wir dürfen die Demokratie nicht den Berufsdemokraten überlassen und kritisierend zuschauen, wie die errungene Bürgermündigkeit in Bürgermüdigkeit umschlägt. Denn die hohe Zahl von Nichtwählern ist nicht nur Ausdruck von Vertrauensverlust und Protest, sondern oft eine unproblematische Form des Egalseins. Wer nicht wählen geht, signalisiert implizit, dass er mit jeder Entscheidung, die andere treffen, leben kann. Zwar ist an niedriger Wahlbeteiligung noch keine Demokratie gescheitert, doch sollte uns aus unserer vertrackten Geschichte und dem Vermächtnis der Friedlichen Revolution klar sein, wie opferreich und mutig genau dieses Wahlrecht erkämpft wurde und das es eine ungeschriebene Bürgerpflicht ist sich an Wahlen zu beteiligen. Wir dürfen unsere Vorstellungen und Ideale von damals, unsere Hoffnung auf eine bessere Welt nicht begraben. Oder mit kleiner Münze für ein Linsengericht oder besser gesagt Bic Mac an die Konsum- und Spaßgesellschaft verplempern. Darum meine ich abschließend: Wer den Herbst 89 bewusst erlebt und verstanden hat, dass wir selbst unter traumatischen und bedrückenden Umständen in der Lage waren die Verhältnisse zu verändern und die Dinge zum Guten zu bewegen, der hat keinen Grund für Zurückhaltung und Pessimismus.